Schreibkraft
Heiner Frost

Ein Nein ist kein Vielleicht

Es ist einer dieser Prozesse, bei denen es um Grenzüberschreitungen geht. Es geht darum, dass ein Nein ein Nein ist – nichts anderes. Ausnahmen von dieser Regel gibt es nicht. Es ist einer von dieser Prozessen, bei denen man den Stift wegwerfen möchte, denn man will nicht schreiben müssen, dass da einer ist, der die Intimität seiner Opfer in Besitz nimmt und sich zum Herrscher aufschwingt, dem die Untertanen gefällig zu sein haben. Man will nicht nachzeichnen, wer wen an welchen Stellen berührt hat und zu welchen Handlungen es gekommen ist. Man sucht nach der Trennlinie, die den netten Menschen vom Täter scheidet. Der Angeklagte, fast alle Opfer sagen das, war anfangs irgendwie nett. „Er hatte irgendwie zwei Gesichter“, wird eine von ihnen sagen. Gab es Gewalt? Es gibt Definitionsunschärfen. Wo beginnt die Gewalt? Man hört zu und am Ende möchte man sich unter die Dusche stellen …

Schuld – Unschuld

„Strafverhandlung gegen einen 52-Jährigen aus Kleve wegen Vergewaltigung, sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen, sexueller Nötigung in drei Fällen, versuchter sexueller Nötigung in zwei Fällen und wegen Nötigung. Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft soll es in der Zeit von Anfang Januar 2007 bis Ende Mai 2014 in sechs Fällen jeweils zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten gegenüber Aushilfen gekommen sein, die in der von der Ehefrau des Angeklagten in Kleve geführten Gaststätte tätig gewesen sein sollen. In zwei weiteren Fällen soll es beim Versuch geblieben sein. Tatbetroffen waren insgesamt vier Aushilfskräfte, von denen zwei auch zeitweilig im Haus der Eheleute gewohnt haben sollen. Der Angeklagte hat im Ermittlungsverfahren die Tatvorwürfe bestritten. Zu den Hauptverhandlungsterminen sind 14 Zeugen geladen.“
Sachlicher geht es nicht. Wie auch, wenn die Pressestelle des Landgerichts es formuliert. Es gilt die Unschuldsvermutung als Grundprinzip eines rechtsstaatlichen Verfahrens. „Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“ Das hier ist einer der Prozesse, in denen es passieren kann, dass Opfer zu „Mitverantwortlichen“ umgedeutet werden. „Sie hatten getrunken?“ „Haben Sie zum Tatzeitpunkt unter dem Einfluss von Drogen gestanden?“ „Warum haben Sie sich nicht zu einer Anzeige entschlossen?“ „Ich habe mich geschämt. Ich hatte keine Beweise. Ich habe gedacht: Dir glaubt doch sowieso niemand. Ich wollte das alles nur vergessen. Ich hatte zudem Alkohol getrunken.“ Während sich die betroffenen Frauen (betroffen klingt, als ginge es um einen Schnupfen) unter der besonnenen Regie des Gerichts wieder einmal in die Tat begeben müssen, sitzt auf der Anklagebank einer, der irgendwie ruhig wirkt – einer, der all das, was ihm zur Last gelegt wird, abstreitet.
Verteidigung hat die Aufgabe, nach Zweifeln zu suchen, nach Unstimmigkeiten. Jeder hat Anspruch auf Verteidigung, so wie auch jeder Anspruch auf einen fairen Prozess hat. Mal hakt es auf der einen Seite – mal auf der anderen, manchmal auf beiden Seiten und manchmal auch gar nicht.
Das Gericht verließ im Prozess gegen den 52-jährigen Angeklagten schnell die Deckung. Ein Richter, der mit der größtmöglichen Feinfühligkeit die Opferzeuginnen befragt – ein Richter aber auch, der ab Sekunde eins klarmacht, wie der Hase laufen wird … und vielleicht auch wohin.

coram publico

Nach Verlesung der Anklage und einem Scharmützel zwischen Verteidigung und Vorsitzenden um Unschärfen in der Anklage („Der Angeklagte hat zu einem unbestimmten Zeitpunkt …“), nach Abstimmungen der Kammer, die – anders als man es sonst gewohnt war – nicht im Richterzimmer sondern gleich im Saal und also coram publico durch einfaches Kopfnicken entschieden wurden, folgte die Verlesung eines Vorstrafenregisters, das von der Unbelehrbarkeit eines Angeklagten Zeugnis ablegt – von immer neuen Gesetzesverstößen. Wer so handelt, denkt man, respektiert weder die Grenzen, die das Gesetz absteckt noch die, bei denen die Freiheit der Opfer inklusive ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit definiert werden. Dazu kommt die Tatsache, dass Opfer im Verlauf eines Prozesses und der damit verbundenen Aussage nicht selten ein zweites Mal „geopfert“ werden. Wie erniedrigend muss es sein, wieder und wieder von der eigenen Verletzung berichten sowie Fragen hören und beantworten zu müssen. („Wo hat er sie berührt?“ „Ist er in sie eingedrungen?“ „Ist er mit dem Finger oder anders in sie eingedrungen?“) Ein Täter darf schweigen – sein Opfer nicht. Ein Opfer ist – auch grammatikalisch gesehen – ein Neutrum – eine Sache. Es darf nichts hinzufügen, nichts weglassen, nichts verharmlosen, nichts überhöhen. Ein Opfer, denkt man, bleibt auch vor Gericht noch das Opfer und muss die Konfrontation mit dem mutmaßlichen Täter aushalten, der ohne äußerliche Regung das eigene Tun ein zweites Mal durch Augen und Seele des Opfer gespiegelt bekommt. Man spürt den eigenen Zorn – den Widerwillen und denkt, dass all das nichts an der Pflicht des Gerichts ändert, sich auch dem Angeklagten (und vor allem seiner Verteidigung gegenüber) professionell und somit wohl kalibriert zu verhalten – mag es auch noch so schwer fallen. Es geht nicht immer um das „Was“ – es geht auch um ein „Wie“ – es geht darum, die äußeren Grenzlinien nicht zu touchieren und es geht – bisweilen – um die Zwischentöne. Man erwartet Standpunkte – von der Verteidigung, von der Anklage … und was erwartet man vom Gericht? Vielleicht eine Vorbildhaftigkeit, von der man ahnt, sie selber nicht zu haben.

Absurd

Der zweite Tag im Prozess gegen einen 52-jährigen Klever wegen Vergewaltigung, sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen, sexueller Nötigung in drei Fällen, versuchter sexueller Nötigung in zwei Fällen und Nötigung war ein Tag der Anträge und ein Tag der Aussagen.
Es war auch ein Tag, der – bei aller Tragik dieser Geschichte, die irgendwie eine Geschichte von Verlorenen ist – Platz für das Absurde hatte. So stellte die Verteidigung den Antrag auf Einholung eines urologischen Gutachtens zum Beweis der Tatsache, dass der Penis des Angeklagten mindestens 18 Zentimeter lang sei und nicht, wie von Zeuginnen behauptet, sehr viel kürzer. Vorsitzender: „Meinen Sie den erigierten Penis?“ Verteidiger: „Nein.“ In allem diesem Desaster aus Elend geht es also um diese Form der „Ehre“? Es ist irgendwie unglaublich.

Reingeritten?

Immerhin werden dem Angeklagten Ungeheuerlichkeiten vorgeworfen, aber: Er leugnet alles. Die ihn belasten: Allesamt Angestellte, die ihn reinreiten wollen. Einen Grund gibt es auch: Er hat sie erwischt – beim Stehlen … mit Drogen … Alle haben sie sich gegen ihn verschworen. Der vermeintliche Täter – ein Opfer. Alle spielen ihm übel mit. Allen Opfern unterstellt er böse Absichten und man fragt sich längst, was wohl in den Frauen vor sich gehen muss. Eine von ihnen sitzt als Nebenklägerin im Saal. Man fragt sich auch, was in der Frau des Angeklagten vor sich gehen muss. Auch sie sitzt im Saal und erlebt eine Welt, die wohl anders sein muss als die der Opfer. Sie kann nicht den Frauen glauben und ihrem Mann. Nichts hier passt zusammen.

Absprachen?

Die Verteidigung möchte beweisen, dass im Vorfeld des Prozesses Aussagen abgesprochen wurden – auf Facebook und die der Wirklichkeit. Längst fragt man sich, wo die Wirklichkeit zu finden ist. Das Gericht, das am ersten Verhandlungstag keinen Antrag der Verteidigung „durchließ“, lädt nun die von der Verteidigung gewünschten Zeugen vor und recherchiert in Gestalt eines Referendars im Internet. Natürlich möchte man wissen, ob es Absprachen gegeben hat. Jede Zeugenaussage beginnt mit der Belehrung. Alle wissen, dass, wer falsch aussagt, mit Strafe zu rechnen hat – vereidigt oder nicht.
Eine Zeugin sagt aus, sie habe für die Frau des Angeklagten in der Gaststätte in der Marktstraße gearbeitet und in einem Zimmer oben im Haus gewohnt. Dort, so glaubt man zu verstehen, habe sie „mit Männern gearbeitet“. Aus diesem Grund habe der Angeklagte Fotos von ihr machen müssen. „Für‘s Internet.“ Beim Durchgehen der Notizen fragt man sich, was für eine Kneipe das ist, von der man da hört. In den Hinterzimmern, so die Aussage einer Zeugin des ersten Tages, lagen Drogen bereit, auf der Etage arbeiten die Angestellten mit Männern?

Rufzeichen

Die Google-Suche: „Raucher- und Nichtraucher Gaststätte. Feiern Sie mit uns in gemütlicher Atmosphäre bis in den frühen morgen [sic!] hinein!!! Sie können auch Ihre private Feier in einem separaten Raum zu günstigen Preisen feiern! Fragen Sie einfach danach!“ Die innere Vorlesestimme wird bei der Fülle von Rufzeichen zum Schreihals. Auf Facebook heißt es am 6. August um 5.23 Uhr: „Wegen der guten Resonanz haben wir auch morgen das Angebot: Für 20 Euro dürft ihr auch morgen trinken so viel und was ihr möchtet. Ansonsten normale Preise!!!“ Wieder schreien drei Rufzeichen. Der Eintrag hat vier Likes und wurde einmal geteilt. Im Online-Branchenbuch ist die Kneipe unter „Branche: Schankwirtschaft“ gelistet. Auf „disco.trendtreff“ heißt es: „Gaststätte bis in den frühen Morgen geöffnet. Nach der Disco noch zum … [Name von der Redaktion entfernt] zum Kickern, Darten, Shisha rauchen, Chillen und Spass haben!! Einlass ab 18 Jahren !!! Raucherlokal!!! Musik in zwei Areas: Alles was Spaß macht! Kein Techno. Bier: 1,30 Euro. Cola&Co: 1.30 Euro. Longdrinks: 0.00 Euro.“ Der Eintrag stammt vom 23. Februar 2011 und „wurde vom Veranstalter nach eigenen Angaben vorgenommen“.

Rhetorische Frage?

Zurück in den Gerichtssaal. Hat der Vorsitzende seine Befragung eines Zeugen beendet, wird das Fragerecht „durchgereicht“: Staatsanwaltschaft, Nebenklage, Verteidigung – in dieser Reihenfolge darf nachgehakt werden. Staatsanwältin und Nebenklage haben keine Fragen. Die Verteidigung schon. Vorsitzender zur Staatsanwältin: „Noch Fragen?“ Staatsanwältin: „Ich habe keine Fragen.“ Vorsitzender: „Warum sind Sie eigentlich hier?“ Kein Kommentar. Oder vielleicht doch: Durch Freundlichkeit weniger Unfälle. Und vielleicht auch noch Fragen: Wo beginnt eigentlich Gewalt und wie werden Menschen zu Opfern gemacht?

Einfahren oder nicht

Ein Anwalt sitzt allein auf seinem Platz. Der Stuhl neben ihm: Verwaist. Dass einem Verteidiger der Mandant abhanden kommt, gerade in dem Augenblick, da der Prozess auf die Zielgerade einbiegt, ist – wie soll man sagen – eher selten …

Rückblick: Es ist 8.30 Uhr an einem Spätaugusttag. Außentemperatur: 20 Grad. Kein Wetter für ein Finale. Der Angeklagte könnte, wenn es nicht gut läuft, abends schon „einfahren“ ins geteilte Deutschland. Die Teilung: Gitterstäbe. Eigentlich ist es ein Tag, an dem man noch schnell Urlaub buchen und den ausgewaschenen Sommer vergessen möchte. Ein paar Zeugen noch, ein paar Anträge der Verteidigung vielleicht, dann die Plädoyers. So antizipiert man das Programm des Tages.

Um 9 Uhr betritt die Kammer den Saal. Draußen protzt die Sonne. Fast möchte man gut gelaunt sein. Die Kammer nimmt Platz – irgendwie ist Redewetter. „Wir sind hier nicht in der Schule. Wer hinten nicht ruhig ist, kriegt ein Ordnungsgeld und fliegt raus“, grüßt der Vorsitzende. Ein schöner Tag.

Eine ganz normale Kneipe

Sieben Zeugen vor dem Finale. Neues wird es nicht geben. Ein bisschen Werbung vom Schwager des Angeklagten. „Wenn man in Kleve was erleben will, muss man da mal hin“, verkündet der Mann und redet von eben jenem „Laden“, in dem sich alles Angeklagte (sowie vielleicht auch Prostitution und Drogenhandel) abgespielt haben könnte. Der Schwager hat die Startnummer vier. Vorher noch drei Zeuginnen, die von Drogen und sexuellen Übergriffen nichts mitbekommen haben wollen. Eine der drei war die Trauzeugin des Angeklagten. Übergriffe hat es nie gegeben. Das „R 66“ – eine ganz normale Kneipe. Kein Rauschgift. Keine Prostitution. Auch die Nummer drei kann zu Drogen oder Übergriffen nichts sagen. Die ganze Anklage hält sie für Schwachsinn. Sie kann sich das nicht vorstellen.
Und wie man sie so reden hört, diagnostiziert man im eigenen Hirn eine erste Richtung. Soll all das hier Komplott sein? Verschwörung gegen einen netten Kerl? Oder ist das Gegenteil längst erwiesen? Die Plädoyers werden Richtungen weisen.
Die Nummer 4, der Schwager also, erzählt die Sache mit der Waschmaschine. Es hat Streit gegeben um das Teil. Alles Folgende: Eine Art Racheakt. Ja – mit einer der Frauen „bin ich verwandt, aber da sie adoptiert ist, sind wir eigentlich nicht verwandt“. „Den zeige ich an“, soll sie gesagt haben und sie soll auch gesagt haben, dass sie weiß, „wie so was geht“. „Also mein Gefühl“, plädiert der Schwager: „Die wollten sich rächen, und die Y. [Name geändert] hat Erfahrung mit dem ‚Dranflicken‘“, sagt er.

Blitzableiter

Der Zeuge mit der Nummer 5 entwickelt eine spontane Dyskalkulie. Vorsitzender: „Wie alt sind Sie?“ Zeuge: „24?“ Er hebt die Stimme am Ende der Zahl. Eine Frage. Vorsitzender: „Bleiben Sie dabei?“ Zeuge: „Ja.“ Prozesse können dramatisch sein – einen Schmunzler gibt es immer mal. Schmunzler sind wie Blitzableiter für das Elend. Auch die Nummer 5 hat nichts mitbekommen. Absprachen? Er weiß nichts. Ja, eine CD mit der Akte hat er gehabt. „Der Mensch ist neugierig.“ Woher er die CD hatte, von der es wohl Kopien für Interessierte gab? Man erfährt es nicht wirklich.
Nummer 6: Ein Polizeibeamter. Er hatte nach den Vernehmungen der Opferzeuginnen einen „Eindrucksvermerk“ gemacht. Die Opferzeuginnen waren um Sachlichkeit bemüht, erzählten viele Details. Alles irgendwie sehr glaubhaft.
Beim 7. Zeugen geht es darum, ob es zwischen ihm und einem der Opfer zu sexuellen Handlungen gegen Bezahlung gekommen ist. Handlungen gab es – Bezahlung nicht. Eine Vermessung des Penis des Angeklagten wird es nicht geben – auch keinen Ortstermin. Neue Anträge der Verteidigung: Es geht um die Einholung eines psychologischen Gutachtens bezüglich eines der Opfer. Das Gericht verkündet nach Beratung, sich für ausreichend qualifiziert zu halten, die Aussage der Zeugin auch ohne Gutachter einordnen zu können. Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.

Die Plädoyers

Die Staatsanwältin sieht die Tatvorwürfe gegen den Angeklagten bestätigt: Vergewaltigung, sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen, sexuelle Nötigung in drei Fällen, versuchte sexuelle Nötigung in zwei Fällen und Nötigung. Ein Plädoyer ohne Punkt und Komma – die Augen der Staatsanwältin fast durchgehend auf den Angeklagten ausgerichtet. Sie weicht nicht aus – argumentiert lückenlos und man ahnt, dass es eng werden könnte. Als sie die Einzelstrafen vorrechnet, wird klar: Wenn das Gericht der Staatsanwaltschaft folgt, wird der Angeklagte den Abend kaum daheim verbringen. Sieben Jahre plus Haftbefehl. Ein Verteidiger der Nebenklage schließt sich schmucklos an – seine Kollegin macht sich noch einmal auf in die Tat, in das Milieu – in eine Welt, in der, wie sie sagt, andere Maßstäbe gelten. Eine Parallelwelt, die man auch Unterwelt nennt. Dort gibt es, sagt sie, Könige und Untertanen. Der Angeklagte: Ein König – einer, der mit Verstößen prahlt. Die Worte des Schwagers mit der Startnummer 4 aufgreifend sagt sie: „Ja, in dieser Gaststätte konnte man wirklich was erleben.“ Ihre Stimme ist mit Zynismus gestrichen. Der Antrag der Staatsanwältin: Völlig in Ordnung. Die Verurteilung: Zwingend. „Ich kann bei den Einzelstrafen nicht so gut rechnen.“ Dem Strafmaß der Staatsanwältin schließt sie sich an.
Will man Verteidiger sein in einem solchen Prozess? Nein. Die Verteidigung setzt auf den Zweifel – auf die Schwierigkeit, ohne konkrete Daten eine Verteidigung aufzubauen. Das Plädoyer beginnt mit der Erwähnung der Unschuldsvermutung. Die Verteidigung fühlt sich von der Kammer im Stich gelassen. Was die Zeitpunkte angeht, hätte genauer nachgefragt werden müssen. „Das ist nicht meine Aufgabe, sondern Ihre.“ Auch das Gericht ist eine Art Parallelwelt, denkt man. Ein Pendel schlägt aus zwischen 7 Jahren und Freispruch. Der Verteidiger: Ruhig besonnen – und … vielleicht irgendwie chancenlos – stellt zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Einstellung des Verfahrens oder Freispruch wegen begründeter Zweifel.

Abgang

Es ist 13.20 Uhr. „Halten Sie sich zur Urteilsverkündung ab 15 Uhr bereit.“ Jetzt, denkt man im Scherz, jetzt wäre die letzte Chance, sich aus dem Staub zu machen – wenn man der Angeklagte wäre – und geht zum Essen. Um 14.55 Uhr ist es unruhig auf dem Gang vor dem Saal. Ist es wirklich passiert? Der Angeklagte: Abgängig? Der Verteidiger spricht mit dem Richter, mit der Ehefrau seines Mandanten. Eine Flucht bei 30 anstrengenden Hitzegraden? Auch kein Spaß. Um 15.10 betritt die Kammer den Saal. Wiedereintritt in die Beweisführung. Gibt es Neues vom Angeklagten? Der Verteidiger spricht von Herzproblemen. Von einer SMS. Es fällt das Wort vom Schlaganfall.
Das Urteil des Gerichts: Fünf Jahre, sechs Monate. Anordnung der Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr. Aha! Der Angeklagte wird es erfahren – im Krankenhaus oder „unterwegs“. Das Wetter: Eigentlich zu heiß zum Türmen.

…zwei Jahre später

Man ist sich schon begegnet. Zwei Jahre ist das her. Man saß nach der Mittagspause zur Urteilsverkündung im Gerichtssaal. Es war ein schöner Sommertag. Dann die Nachricht: Der Angeklagte ist irgendwie verlorengegangen.

Nicht teilgenommen

Jetzt drückt der Richter es so aus: „Sie hatten seinerzeit an der Verkündung des Urteils nicht mehr teilgenommen.“ Die Staatsanwältin spricht von Flucht – die Verteidigung schließt sich dem „Fernbleibemodell“ an. „Das war keine Flucht.“ Und jetzt sitzt man wieder hier. Der Angeklagte wurde aus der Justizvollzugsanstalt „angeliefert“. Sie haben ihn damals gefasst und dann „mit Verzögerung“ zum Absitzen in den Knast gebracht. Presse hat es reichlich gegeben. Die Strafe seinerzeit: Fünf Jahre, sechs Monate. Es ging um acht Fälle von sexueller Nötigung und Vergewaltigung.

Irgendwie skurril

Man erinnert sich: Alles war gleichzeitig traurig und skurril. Die Verteidigung stellte den Antrag auf Einholung eines urologischen Gutachtens zum Beweis der Tatsache, dass der Penis des Angeklagten mindestens 18 Zentimeter lang sei und nicht, wie von Zeuginnen behauptet, sehr viel kürzer. Vorsitzender: „Meinen Sie den erigierten Penis?“ Verteidiger: „Nein.“ In allem diesem Desaster aus Elend geht es also um diese Form der „Ehre“? Es war irgendwie unglaublich. Damals: Ein reuefreier Angeklagter. Er hat Revision beantragt. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil in Teilen aufgehoben. Wer die Begründung liest, sollte besser Jurist sein. Stimmt: Da sprechen Richter zu Richtern.

„Der 3. Strafsenat hat nach Anhörung des Beschwerdeführers … einstimmig beschlossen … Das Zurückziehen der in Frage stehenden Punkte … In den Fällen II. Tat 2 und II. Tat 7 der Urteilsgründe hält die jeweilige Verurteilung wegen versuchter sexueller Nötigung revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.“

Was folgt, nimmt Seiten in Anspruch.

„Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen und ausgehend von seiner Wertung, dass der Angeklagte die sexuelle Nötigung jeweils nur versuchte, weil die Opfer das Eindringen seiner Zunge verhinderten, hätte das Landgericht indes prüfen und erörtern müssen, ob er strafbefreiend von der versuchten Tat zurücktrat. Es hat in der rechtlichen Würdigung zwar ausgeführt, der Angeklagte habe die Taten nicht freiwillig aufgegeben, vielmehr hätten die Zeuginnen durch ihre Gegenwehr den Erfolg endgültig verhindert; durch die Feststellungen wird aber weder belegt, dass der Nötigungsversuch jeweils fehlgeschlagen war, noch ist mit tragfähiger Begründung ausgeschlossen, dass der Angeklagte jeweils freiwillig vom unbeendeten Versuch der sexuellen Nötigung zurücktrat, als er sein Vorhaben, die Zeuginnen mit Gewalt zum Zungenkuss zu zwingen, aufgab.“ Juristerei am Hochreck.

Minus fünf

Die Folge: „Wir haben heute nicht wirklich viel zu entscheiden“, sagt der Vorsitzende. Am Ende werden zwei der angeklagten Punkte zurückgenommen. Zu ihrer Klärung bedürfe es einer Einlassung seitens des Angeklagten. Der aber äußert sich nur zur Person und nicht zu Tatvorwürfen. Was bleibt?
Der Angeklagte möchte sein Leben ändern: wieder arbeiten, eine Therapie machen. Es geht um sein Sexualverhalten. Die Therapie, sagt er, soll ambulant sein. Das setzt die Außervollzugsetzung des Haftbefehl voraus. Ein bisschen klingt das nach … jetzt nur nichts Falsches schreiben. Vielleicht einfach mal eine Frage: Wie klingt es, wenn ein Angeklagter sagt, dass er eine Therapie machen möchte, wenn zuvor der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt wird?
Gut, dass man kein Jurist ist. So kann man alles als „irgendwie schräg“ empfinden. Natürlich: Jedem muss zugestanden werden, dass Besserung angestrebt wird. Schnell ist man an dem Punkt, der auch hier genannt wird: Was, bitte, soll den Frauen gesagt werden, die vorher zu Opfern wurden? Das formulieren auch die Nebenklagevertreter. Sie sprechen beim „Fallenlassen“ von zwei Anklagepunkten von Bauchschmerzen, aber: Es muss irgendwann auch alles einen Abschluss finden.
Aus den fünf Jahren und sechs Monaten der ersten Runde werden am Ende fünf Jahre und ein Monat. Ein Monat ist abzurechnen, weil das Verfahren elend lang gedauert hat. (Das sagt der Richter natürlich nicht so. )
Die Handschellen sind schnell angelegt. Die Kammer wünscht sich, dass die Besserung stattfindet und die Zukunftswünsche des Angeklagten „nicht einfach so gesagt wurden, um einen guten Eindruck zu machen.“ Und: „Wenn Sie das schaffen, werden wir uns hier nie wiedersehen.“ Der Richter wünscht alles Gute. Er meint das so.